my story im WDR – Wie Pseudo – Interaktivität scheitert

Der WDR wagte sich mit großen Worten an ein neues digitales Format. „my story“ soll die interaktive Erweiterung des sonst wirklich guten journalistischen Reporterformats „die story“ werden. In ihrem PR-Text  zum Thema lobt die Anstalt die „ausgeklügelte Strategie“ dahinter, die „technisch präzise Programmierung“. Das Projekt soll „Modellcharakter“ haben. Am Ende bleibt leider nur wieder die Erkenntniss: obwohl die Medienmacher in den USA und Kanada auch noch im frühen Experimentierstadium sind, sind sie dort Lichtjahre weiter als in Deutschland. Hier ist das Ergebnis eher entwicklungshindernd. Ein kontraproduktives Experiment.

Das sich der WDR überhaupt mit dem digitalen Wandel der Medienwelt auch auf Seiten des Storytellings auseinandersetzt, ist eigentlich ein sehr gutes Zeichen. Der WDR gehört sicherlich grundsätzlich zu den eher innovativ eingestellten ARD – Anstalten. Und von privatwirtschaftlich finanzierter Medienseite ist sowieso kein konstruktiver Beitrag zu neuen non-fiktionalen Erzählformen in der digitalen Welt zu erwarten (auch, wenn es ihre verfassungsgemäße Aufgabe wäre, aber das ist ein anderes Thema).

Zu Beginn der linearen Austrahlung von „die story“ am vergangenen Montag Abend im Fernsehen fehlt vor allem eins: irgendein Hinweis auf die Erweiterung des Themas im Internet. Erst im Film wird der entscheidende QR – Code eingeblendet. Scanned man ihn, würde dieser Code das Smartphone auf eine Website weiterleiten.

Im Ernst? Wer bitte steht hektisch aus dem Fernsehsessel auf, während der laufenden und hoffentlich spannenden Sendung, sucht sein Smartphone, startet die QR-Lese-App, sprintet vor den Fernseher zurück und fotografiert den Code? Um sich noch länger von der Story ablenken zu lassen?

Vermutlich war die Konversionsrate schon an dieser Stelle dramatisch schlecht. Hauptsache, die Verantwortlichen interpretieren das in richtiger Weise. Nicht das Projekt an sich war in diesem Moment schlecht (was die naheliegende Annahme wäre, wenn man sich ausschließlich die Abrufzahlen ansieht), sondern lediglich die nutzerunfreundliche Art, auf das Zusatzangebot hinzuweisen.

Landete man auf dem Zusatzangebot „my story“ (was offenbar während der Livesendung nicht geklappt hat, wie eine weitere Kritik zum Thema in der Neuen Osnabrücker Zeitung nahelegt) hatte der Nutzer endlich die Wahl. Ein Menü erscheint. Stelle den eigenen Film zusammen. Grafisch nett aufgemacht, wie ich finde.

WDR - die story Interaktiv. Die Startseite von "Alpen abgezockt – Berge, Schnee und Billiglohn“
WDR – die story Interaktiv. Die Startseite von „Alpen abgezockt – Berge, Schnee und Billiglohn“

Und da ist er auch schon, der Grundsatzfehler des Projektes. Interaktivität setzt immer eine direkte Selbstwirksamkeitserfahrung voraus. Soll heißen: Der Nutzer muß spüren, dass ihn seine Interaktivität ein besseres Erleben schafft. Hier: einen besseren, spannenderen oder informativeren Film. Das einzige, was „my story“ erlaubt, ist das Video um weitere Teile zu verlängern. Irgendwann im Laufe des Films, mit unsicherem Ausgang für den Zuschauer. Das ist nicht interaktiv, sondern simples zusammenstellen einer Playlist.

Hat man seine Auswahl getroffen, könnte man nun auf einen echten Zusatznutzen im Film hoffen. Leider wieder falsch. Das Zusatzmaterial ist eben genau das, was der Name „Zusatz“ noch bedeutet: nämlich verzichtbar. Aus gutem Grund haben es diese Aufnahmen nicht in die Fernsehfassung des Films geschafft. Nicht, weil sie schlecht fotografiert wären. Oder schlecht journalistisch aufbearbeitet. Nein. Diese „Zusatzaufnahmen“ bringen das Thema nicht weiter. Sie bauen überflüssige Schleifen und Nebenrichtungen in das Storytelling, verlangsamen es – machen einen eigentlich ganz guten Film schlecht und langweilig.

Wenn die „ausgeklügelte Strategie“ (Zitat WDR) hinter „my story“ bedeutet: nutze die zwar gedrehten aber sonst in der Mülltonne verschwindenden Aufnahmen weiter, mache das Erzählen im Web zur überflüssigen Resterampe, dann begibt sich der WDR im Zukunftsmarkt interaktives Storytelling bereits jetzt in die völlig falsche Richtung.

Kontraproduktiv wird das ganze Projekt, weil es so überschwenglich vom WDR verkauft wurde. Als das absolut Tolle und Neue. Das Richtungsweisende. Der interaktive Nutzer wird aus „my story“ nur eine Konsequenz ziehen: Interaktivität – brauche ich nicht.

Ich habe in den vergangenen Monaten einige interaktive Stories analysiert für meine Arbeit zum Thema „Radio in digitalisierten Mediensystemen“. Ein besonderes Beispiel ist „Out my Window“ von Katerina Cizek – 2011 mit einem Emmy ausgezeichnet. Ich kann nur empfehlen: ansehen und echte Interaktivität erleben.

Bemerkenswert ist auch das neue vom National Filmboard Of Canada geförderte interkative Projekt NFB Spaceschool. Mit stand heute beschäftigt es sich vor allem mit dem neuen kanadischen Weltraumhelden Chris Hadfield (genau, das war der mit seiner in der ISS gefilmten Version von David Bowies Space Oddity).

Am Projekt NFB Spacescool wird auch schon ein weiterer wesentlicher Aspekt des interaktiven Storytellings der Zukunft sichtbar: es gibt keinen Redaktionsschluss. Die Story entwickelt sich immer weiter. Der WDR hoffentlich auch.