Das Codonaut Experiment – eine künstliche Intelligenz erzählt von sich

Wie verändern sich Journalismus und Kommunikation durch neues Mediennutzungsverhalten. Wie kann man Geschichten nun „besser“ erzählen. Damit beschäftige ich mich seit mehr als sechs Jahren beruflich. Nun kommt ein neuer Aspekt hinzu. Der Teil, der in meinen bisherigen Arbeiten immer ein wesentlicher Teil der Theorie war. Eine praktische Umsetzung kannte ich jedoch nicht. Bis vor ein paar Wochen. Aus diesem für mich neuen Wissen wird nun ein Projekt. Der Codonaut.

Das sich das Mediennutzungsverhalten durch die Digitalisierung geändert hat (und immer weiterentwickeln wird) ist unbestritten. Smartdevices und die Art, wie deren Apps entwickelt und optimiert werden, erzieht die Nutzer zu einem anderen Verhalten und damit auch zu anderen Erwartungen – zu der User Experience, die sich nicht mehr mit der analogen Medienwelt vergleichen lässt und viel mehr umfasst als „nur“ das Layout oder die Distribution von Inhalten.

Gegenwärtig gute digitale Inhalte sind non-linear, im besseren Falle interaktiv und im besten Fall personalisiert. Gerade die Frage, wie man einzelne Geschichten in ihrer Gesamtheit auf die Bedürfnisse der Nutzer*Innen praktisch mit vertretbarem Aufwand für Autoren personalisieren kann, blieb für mich jedoch lange ungeklärt. Denn: auch, wenn man eine Geschichte digital interaktiv gestaltet, folgt sie der Linie und der Tiefe, die der Autor irgendwann einmal zuvor festgelegt hat. Unterschiedliche Tiefen von Inhalten ließen sich in non-linearen Formen nur abbilden, wenn der Nutzer selbst bewusst die Entscheidung trifft, in welche Tiefe er gehen will. Das  verlangt aber in dem Moment, in dem man sich als Nutzer für den nächsten Weg entscheiden will, eine Loslösung von der Geschichte und eine Selbstreflexion.

Leider zerstört dieser Vorgang die Chance auf das Höchste, was man sich als Autor wünscht: das die Nutzer*Innen in eine Flow kommen. Wie bei einem fesselnden Buch. Oder einem außergewöhnlichen Feature, bei dem man mit allen Sinnen in eine Erzählung eintauchen kann.

Personalisierung ist schon lange möglich

Der Zufall brachte mich zu einer Lösung, die es in Wahrheit schon seit seit fast 20 Jahren gibt, von der ich aber bis zum Frühjahr 2018 noch nie gehört hatte. Gefunden habe ich sie in einem ziemlich in die Jahre gekommenen Haus in Berlin, genau auf der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln. Eben dort, wo schon immer echte Berliner Kreativität tobte. (Und genau dort, wo Ton Steine Scherben unweit des legendären Mariannenplatzes ihren Rauch-Haus-Song aufgenommen haben, aber das nur am Rande für die Älteren oder musikhistorisch interessierten unter uns … )

Der Eingang zum Korsakov-Institut. 

Ich lernte dort Florian Thalhofer kennen. Er ist Dokumentarfilmer, Medienkünstler, und hat schon vor gut 20 Jahren für seine Diplomarbeit eine Software erfunden, die dem Nutzer erlaubt, einen eigenen Weg durch eine „Raum voll Inhalt“ zu gehen. Florian dachte – so wie ich in meiner Arbeit – das Inhalte nicht mehr als Ganzes verstanden werden sollten, sondern als ein Raum einzelner Inhaltsblöcke, die Wiederrum über Verbindungen in sinnvolle Kontexte gestellt werden.

In etwa so, wie das Gehirn in seiner Funktion häufig dargestellt wird. Mit den Nervenzellen – den Inhaltsblöcken – die über Nervenbahnen – den unterschiedlichen Wegen durch alle Inhaltsblöcke – verknüpft sind. Dabei ist diese Verbindung keine lineare von einem definierten Anfang und einem definierten Ende. Ein Inhaltsblock kann über viele verschiedene Bahnen mit vielen anderen Inhaltsblöcken verknüpft sein.

Alles klar? (ja, das klingt im ersten Moment kompliziert, ist es aber eigentlich gar nicht. Man muss sich nur kurz die Zeit nehmen, darüber nachzudenken).

Interaktiver Journalismus ein Mittel gegen Populismus?

Im Laufe der Zeit und vermutlich vielen intensiven Diskussionen entwickelte Florian hieraus eine eigene Philosophie. Eine der Kernaussagen: die Art, wie die Menschen seit der Dominanz von Hollywoodfilmen erzogen werden, Geschichten zu erleben, macht all die bösen Auswüchse der Gegenwart wie Poplulismus, Angstbesessenheit und Überemotionalisierung erst möglich. Florian hat das in einer Keynote beim iDocs-Festival in Bristol erklärt.

Florian Thalhofer beim iDocs – Festival in Bristol

Wer sich die unterhaltsamen und geistesöffnenden 25 Minuten nicht ansehen möchte, hier die Zusammenfassung aus meiner Sicht. Die klassischen Methoden des „Storytellings“ – kultiviert von der Art, wie in Hollywood Geschichten erzählt werden – benötigen eine Polarisierung. Den Helden und den Antihelden. Die These und die Antithese. Das good and bad.

Das hat aber gar nichts mit der echten Welt zu tun. Hier gibt es nicht Schwarz und Weiß, sondern unendlich viele Farben dazwischen. Das Storytelling verzerrt also nach Florians Überzeugung die Wirklichkeit und damit auch die Art, wie einzelne Menschen auf die Wirklichkeit reagieren.

Darüber muss man erst einmal reflektieren.

Ich habe es in vielen Gesprächen mit Florian getan und stimme ihm inzwischen weitgehend zu.

Einer meiner wesentlichen Einwände ist, das „Storytelling“ auch ohne diese Polarisierung gut funktionieren kann. Es gibt andere Formen des Geschichten-Erzählens, die ich in den vergangenen  Jahren mit Journalistenkolleg*Innen in Workshops  weiterentwickelt habe. Diese Arten werden nur kaum praktiziert.

Ich bin mir inzwischen aber auch sicher, das der von falschen Wertzielen / KPIs (Click & Engagement) getriebene deutsche Onlinejournalismus sehr deutlich zur auch künstlichen Dramatisierung und Polarisierung tendiert (siehe auch „Social Media, Suchmaschinen und Ethik„) und damit nicht nur der Gesellschaft, sondern auch sich selbst schadet. Die kurze, vom Reptiliengehirn in unserem Kopf erzeugte Erregung der besonders polarisierenden Überschrift oder der schwarz/weiß gemalten Story in sozialen Medien aber auch in anderen Distributionsmodellen konvertiert eben nicht so einfach in treue, zahlende digitale Abokunden. Meist ist das Gegenteil der Fall. Diese Art verringert sogar die Abozahlen z.B. im Print, da sich Traditionalisten angewidert abwenden. Die Marke eines Medienhauses zerstört sich so mittelfristig selbst (ja, es gibt auch Medienhäuser in Deutschland, die es aus einem hohen Wertekontext heraus schon immer anders machten und dadurch nun endlich auch nachhaltig Erfolg haben, aber das ist eine andere Diskussion).

Ein Content Management System mit eingebauter einfacher künstlicher Intelligenz übernimmt das „Storytelling“

Das CMS, das Florian für seine Diplomarbeit entwickelt hat, nannte er Korsakow. Die Software nutzt Muster und Ähnlichkeiten in den einzelnen Inhaltsabschnitten, um dem Nutzer daraus verschiedene sinnvolle nächste Schritte im gesamten Inhaltsraum anzubieten. So kann jeder intuitiv seinen eigenen Weg durch die Inhalte finden, und zwar in der Geschwindigkeit und Tiefe, die seinem aktuellen Bedürfnis entsprechen – eben echt personalisiert.

Das ist sehr abstrakt, aber ein aufgezeichneter Walkthrough durch Florians Produktion „Planet Galata“ (entstanden für arte) kann einen ersten Eindruck vermitteln, wie sich so ein Korsakow-Projekt für den Nutzer anfühlt.

Korsakow

Florian ist Filmemacher. Das bedeutet, das er seine Technologie immer im dokumentarischen Zusammenhang nutze, aber nicht im Kontext klassischer journalistisch dominierter Formate. Dadurch, das wir (Florian und ich) uns fanden und der junge Filmemacher Felix Pauschinger (Absolvent meiner ehemaligen beruflichen Nachbarn, der Filmuniversität Babelsberg) zu uns stieß, wird sich das nun ändern.

Das ist der Codonaut

Wir haben uns für ein neues, journalistisches Korsakow-Projekt das Thema Künstliche Intelligenz ausgesucht. Dieses Thema ist so extrem vielschichtig, das ich persönlich fest daran glaube, das eine typische, auf 45 oder vielleicht 90 Minuten begrenzte lineare Darstellungsform dem Thema nicht einmal ansatzweise gerecht werden kann. Nur die interaktive Form erlaubt diese Vielschichtigkeit und hoffentlich auch Tiefe. 

Gleichzeitig geben wir als Autoren des Mediums einen Großteil der Interpretationshoheit an die Erzählsoftware und damit an jeden einzelnen Nutzer ab. Wir wollen der Darstellung keinen Spin geben – wie „KI ist Böse“ oder „KI ist der Heilsbringer“. Diese Art der Polarisierung nutzen Populärmedien heute schon zu genüge.

Themenplanung des Codonauten

Das verändert zum Beispiel auch die Art, wie man grundsätzlich an die Themenplanung herangeht. In unserem ersten Meeting versuchten wir bereits, in Themenräumen und Kontexten zu denken. So habe ich früher in meiner Zeit als aktiver Journalist nie Produktionen gedacht.

Wann ist die neue, interaktive Erzählform erfolgreich?

Wir sind uns sehr sicher, das der Codonaut im Bewertungsrahmen klassischer Messungen (in diesem Fall im Vergleich zum Film auf Onlineplattformen mit Messung von Abzuzahlen und Verweildauer) eher schwach abschneiden wird. Nein, wir werden nicht ad hoc die längsten Verweildauer erzeugen – dazu ist die User Experience zu ungewohnt (nicht nur in der Art, wie der Codonaut zu bedienen sein wird, sondern auch bedingt durch den Verzicht auf künstlich erzeugte Spannungsbögen). Und natürlich werden wir wegen des Fehlens klassischer Multiplikatormechanismen auch nicht die höchsten Clickraten erzeugen.

Wir nehmen uns als Autoren, die den Codonaut aus eigener Tasche und aus dem Willen zum Experiment in unserer Freizeit realisieren, das Recht und den Luxus heraus,  „Erfolg“ nach unseren Maßstäben zu definieren. 

Dieser Bewertungsmaßstab ist m.E. höher als der des klassischen  Ansatzes. Wir wollen, das die Komplexität des Themas verstanden und die Vielschichtigkeit verinnerlicht wird. Oder, um es in Worten der Unternehmenskommunikation auszudrücken: Wir wollen, das die Botschaften im Lärm des alltäglichen Medienkonsums trotzdem nachhaltig verfangen und vom Nutzer erinnert werden.

Interaktivität, Non-Linearität und vor allem die an den intuitiven Bedürfnissen jedes einzelnen Nutzers orientierte Personalisierung sorgt dafür.

Das ist unsere These, die es nun zu beweisen gilt.

Die web-basierte Darstellungsform veröffentlichen wir unter der Adresse http://codonaut.de. Die Dreharbeiten haben gerade (Mitte August 2018) begonnen. Es ist ein Experiment. Wir lernen als Autoren an vielen Punkten hinzu. Und werden an einigen Aspekten auch scheitern. Deshalb können und wollen wir keinen konkreten Veröffentlichungstermin nennen. Wir wollen allerdings unsere Erfahrungen teilen, deshalb führen wir auf der Codonaut-Seite auch ein Produktionstagebuch – zumindest ab Montag :-).