Die Online News Organisation (ONA) vergibt jährlich die Online Journalism Awards. Die meisten der nominierten Veröffentlichungen nutzen inzwischen Darstellungsformen, die der erwarteten User Experience digitaler (Smartdevice) Nutzer entgegenkommen: sie sind crossmedial, interaktiv, und teils personalisiert. Hier sind die sieben Nominierten, die es 2018 meiner Meinung nach am besten machen. Die Leuchttürme des Online-Journalismus:
Im englischsprachigen – und inzwischen auch im spanischsprachigen – Raum setzt sich bei traditionellen Medienunternehmen der Digital First – Gedanke immer mehr durch. Veröffentlichungen werden zunächst mal aus der digitalen Sichtweise produziert, und dann auf den klassischen Veröffentlichungsweg wie Zeitung oder TV Sendung transformiert.
Das hat eine immense Steigerung der digitalen Qualität zur Folge. Während bei den Awards vor zwei Jahren crossmediale Formen noch nicht in der Mehrheit waren, prämiert die Jury nun Veröffentlichungen, die nicht nur hervorragend recherchiert sind (ein wichtiger Faktor bei der Preisvergabe), sondern sich so weit wie möglich dem erwarteten Nutzungserleben – also der User Experience – anpassen. Der reine Text hat ausgedient. Viele Bilder, gelegentliche Interaktionen und auffallend viele Audiostücke als Teil nahezu jeder Veröffentlichung, das ist die Bilanz im Pool der Nominierten 2018. Die Gewinner werden am 18. September 2018 bekannt gegeben.
Der deutsche Online-Journalismus sieht alt aus – im wahrsten Sinne des Wortes
Wenn man die Nominierten mit dem deutschen Gegenstück zu den Online Journalism Awards vergleicht – den Grimme Online Awards – , wird eins deutlich. Der deutsche Onlinejournalismus steckt irgendwo zwischen Newsletter, Textlawine und netten Instagram-Spielereien fest. Online – spezifische Veröffentlichungen sind selten, und wenn erreichen sie meist nicht einmal mehr die Qualität, die es zwischen 2014 und 2016 auch im deutschsprachigen Raum schon gab.
Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig. Klar ist aber auch, dass die Investitionen in digitale Erzählformen, die sich vor allem die US und UK-Medienhäuser seit gut fünf Jahren leisten, inzwischen große Früchte tragen. Die Veröffentlichungen erreichen nachhaltiger ihr Publikum. Das zahlt sehr stark auf die Marke des Medienhauses ein. Und konvertiert inzwischen sehr gut in zahlende, treue Kunden.
Wir können im deutschen Online-Journalismus noch so viel lernen. Wenn wir zum Beispiel diese Nominierten als Referenz nehmen:
Scrollytelling und beeindruckende Bilder: Highway of riches, road to ruin
Die Journalistin Stephanie Holen und der Fotograf Aaron Vincent Alkaim fuhren für die Zeitung „The Globe and Mail“ die 2000 Kilometer lange Landstraße BR-163 quer durch das brasilianische Amazonas-Gebiet – dort, wo Interessen der Wirtschaft auf Ureinwohner und Naturschützer treffen.
Die starken Fotografien und Protagonisten tragen die Reportage. Der Text bleibt meist kurz. Die Interaktion erlaubt dem Nutzer sein eigenes Nutzungstempo und gibt genügend Raum, über die Inhalte nachzudenken – ohne den Anschluss zu verlieren.
Diese Reportage belegt für mich am besten, wie man ohne zusätzlichen Aufwand in Produktion und Recherche aus einer zehnseitigen Magazinreportage ein noch viel wirkungsvolleres Onlineformat gestalten kann. Denn: es gibt schon seit langem genügend Content Management Systeme, die Darstellungsformen wie diese leicht beherrschen. Selbst WordPress kann das 🙂
Gameification: The Uber Game
Ein einfaches, interaktives Klick-Spiel der Financial Times, in dem man sich in das Leben eines Uber-Fahrers hineinversetzt, der innerhalb einer Woche 1000 $ verdienen muss.
Journalismus und Gameification funktioniert großartig, wenn man die Inhalte wirklich nachfühlbar machen will. Technologisch ist die Umsetzung vergleichsweise einfach – es erinnert an die Textadventures auf den frühen Heimcomputern (nur mit schönerer Grafik). Die Wirkung der Geschichte ist beeindruckend.
Interaktiver Datenjournalismus: Bussed Out
Einige US Städte haben eine aus unserer europäischen Sicht befremdliche Art, mit Obdachlosen umzugehen: sie schenken ihnen Bustickets und sogar Flüge – Hauptsache, die Obdachlosen sind weg aus der Stadt.
Wie man daraus eine beeindruckende, auf Datenjournalismus basierende Geschichte macht, zeigt der Guardian. Die Redaktion hat sehr viel investiert: 18 Journalisten recherchierten 18 Monate lang.
Entsprechend detailreich sind die vielen unterschiedlichen Grafiken animiert und interaktiv nutzbar. Dazu kommen vor allem mit O-Ton Audio erzählte Schicksale einzelner Obdachloser. Interessanterweise nutzt das Guardian-Team trotzdem technisch ein hierfür Videoformat, obwohl eigentlich nur ein stehendes Bild des Protagonisten gezeigt wird.
Immersiv und Interaktiv: The Last Generation
Die Marshall Inseln im Pazifik werden in den nächsten Jahrzehnten im Meer versinken. Schuld ist der Klimawandel. Der interaktive Film des (klassischen) TV Magazins Frontline begleitet drei Kinder, die zur letzten Generation gehören, die auf den Inseln leben können – und wie sie sich schon heute auf das Ende ihrer Heimat vorbereiten.
Das Frontline – Team nutzt kurze Gespräche mit den Protagonisten, angereichert mit Eindrücken von den Inseln, Filmmaterial der letzten verheerenden Flut und interaktiven Grafiken. Alles ist Umrahmt von einem filmunabhängigen Musikbett. Das ist ein wesentliches Element, um die Story zusammenzuhalten.
Beim Betrachten entsteht eine unglaublich große Nähe zu den Protagonisten – viel mehr als in jeder klassischen TV Reportage. Trotzdem bleibt die Geschichte weitgehend linear, und nutzt so nur einen Teil der heute vorhandenen digitalen Erzählmöglichkeiten aus. So funktioniert Online-Journalismus sehr gut, wenn er von einem TV-Team erdacht wird.
Crowdrecherche und echte Non-Linearität: Staatsanwalt Nisman’s abgehörte Telefongespräche
1994 gab es in Argentinien einen verheerenden Anschlag auf die jüdische Organisation AMIA mit 85 Toten und hunderten Verletzten. Der Staatsanwalt Alberto Nisman entdeckte bei den Ermittlungen offenbar eine Verbindung zwischen den Attentätern – mutmaßlich aus dem Iran – und der ehemaligen Argentinischen Präsidentin Christina Kirchner. Nur Stunden bevor Nisman vor dem Parlament zu seinen Ermittlungen aussagen sollte, wurde er ermordet.
Unter anderem hinterließ er die Aufnahmen von 40.000 abgehörten Telefonaten. Die Zeitung La Nación aus Buenos Aires nutze Crowdsourcing mit ihren Lesern, um alle Telefonate nach relevanten Informationen zu durchsuchen. Am Ende stehen 200 Audioaufnahmen von verdächtigen Telefonaten, durch die sich der Nutzer selbst klicken kann. Das funktioniert offenbar besonders gut begleitend zum Prozess, der derzeit in Argentinien läuft.
Auch, wenn man kein Spanisch versteht – die Authentizität der Inhalte und die Darstellung ist bemerkenswert – und wäre ohne crossmediales Storytelling unmöglich.
Geld verdienen mit crossmedialen Erzählformen: Olympische Winterspiele 2018 / King Of The Hill
Die Nationale Filmförderung finanziert schon seit fast zehn Jahren interaktive digitale Erzählformen – entsprechend verbreitet und auf qualitativ hohem Level ist das moderne Erzählen in Kanada. Genauso wie beim oben erwähnten „Highway of riches“ ist die Zeitung „The Globe And Mail“ aus Toronto Produzent bei diesem Stück zu den Olympischen Winterspielen 2018.
Insgesamt produzierte die Zeitung zu 30 kanadischen Athleten crossmediale Kurzformen, die überwiegend auf kurzen Videosequenzen, Interviews und Erklärgrafiken basieren (unverkennbar auf dem Content Management System, das auch bei Highway To Riches – das ich am Anfang dieses Textes beschrieben habe – verwendet wird).
Hier kommt das Besondere: Die Serie hat einen klaren Dreh zur Monetarisierung und Conversion. Denn am Ende eines jeden Stücks bleibt beim Rezipienten das Gefühl der Faszination, wie schnell man so dicht an die Sportler herangekommen ist. Und mit einem Klick auf das Registrieren (ja, und es geht wirklich schnell, das zu tun) kann man auch alle anderen 29 Stories sehen.
So zahlen diese crossmediale Produktionen im Online-Journalismus direkt auf das Unternehmen ein: Flow beim Nutzen, Selbstwirksamkeitsgefühl, auf dem emotionalen High kann man durch das Abschließen des Abos mehr davon bekommen, ohne die Enttäuschung des Cliffhangers zu haben. Perfekt.
Die New York Times ist ebenfalls mit einer Winter Olympics – Produktion in dieser Kategorie nominiert. Es lohnt sich der direkte Vergleich. Ich denke, die Unterschiede in der User Experience werden schnell deutlich. Siehe:https://www.nytimes.com/interactive/2018/02/08/sports/olympics/mikaela-shiffrin-alpine-skiing.html
Allerdings ist auch klar, das selbst die Produktion aus New York das Niveau wohl aller deutschen crossmedialen Produktionen im Online-Journalismus der vergangenen Jahre deutlich toppt.
Text vs. Interaktiv: Leaving Tracks
Für studentische Projekte schreibt die ONA regelmäßig einen Sonderpreis aus. In diesem Jahr liefert ein Projekt der Walter Cronkite School of Journalism and Mass Communication in Phoenix, Arizona, einen wunderbaren Vergleich zwischen traditionellen und interaktiven Darstellungsformen.
In dem kurzen Stück geht es um Wildhüter in Arizona, die Wölfe ansiedeln wollen. Die Geschichte wird zunächst interaktiv erzählt, am Ende erscheint dann der Link zur klassischen Textversion. Ein guter Vergleich, wie beide Formen wirken.
An diesem Projekt wird auch ein Problem der interaktiven Darstellungsformen deutlich, das uns rücksichtslose Werber eingebrockt haben. Seit einigen Monaten sperren die meisten Browser das automatische Abspielen von Multimediainhalten auf Websites – oder schalten zumindest den Ton stumm. Das ist die sogenannte Autoplay-Sperre. Grund dafür waren Onlinebanner, die ungefragt lauthals ihre Werbebotschaften im Video und Audio rüberbringen wollten.
Nun muss man also bei vielen crossmedialen Stories zunächst irgendwo klicken, damit die Multimediainhalten automatisch gestartet werden können. Deshalb wirkt das Projekt Leaving Tracks zunächst einmal wie eine recht sinnbefreite Fotoshow – bis man die Audio-Schaltfläche rechts oben gefunden und zweimal geklickt hat.
Daran müssen die Entwickler noch arbeiten…