Wie ideales Crossmedia Publishing funktioniert – die 16 Best Practice Beispiele 2016

Die Online News Association (ONA) – ein weltweiter Non-Profit Zusammenschluss von Online Journalisten – vergibt jährlich Preise für den besten Online Journalismus. Unter den Nominierten für 2016 sind auch einige Beispiele für innovatives crossmediales Storytelling im Journalismus. Hier sind die crossmedialen „state-of-the-art“ Projekte in der Übersicht. 

Die Art der Darstellung ist nur in wenigen Kategorien des Online Journalismus Preises ausschlaggebend für die Nominierung. Als  Vereinigung der Journalisten bewertet die Online News Association erst einmal gutes journalistisches Handwerk, und dabei vor allem die Recherche.

So schaffen es (gruselig) faszinierende Beispiele wie das der Baltimore Sun auf die Liste der Nominierten. Das Lokalmedium hat sich des blutigsten Monats in der Geschichte der Stadt angenommen. Im Juli 2015 sind dort auf offener Straße 45 Menschen ermordet worden. Die Journalisten haben die Geschichte jedes einzelnen Opfers recherchiert und veröffentlicht. So eine Story hätte in der Printausgabe kaum Platz, Online ist das möglich – auch wenn das Thema eher traditionell online umgesetzt ist (also: ohne große Interaktion und mit viel Text).

Ich habe allerdings auch eine Reihe von Beispielen gefunden, in denen die Journalisten (und vor allem auch Journalismus-Studenten) kompromisslos crossmedial und interaktiv erzählen. Dabei zeigt sich ein ganz großer Trend:

Virtual Reality und 360 Grad kommen

Nach den ersten Experimenten mit diesen neuen Darstellungsformen Anfang 2015 sind in den vergangenen Monaten einige beeindruckende Projekte hinzukommen, die das crossmediale Storytelling mit großen Schritten voranbringen.

Dahinter steckt der Gedanke des Immersive Journalism, also einer Form des Journalismus, die die Geschichte für den Nutzer erlebbar macht. Stichwort: Holodeck. Bei der re:public 2015 gab es den beeindruckenden Vortrag von James Pallot zum Thema. Nun sind einige beachtenswerte Stories in dieser Form veröffentlicht worden.

Mein Favorit in diesem Zusammenhang: 6X9 – A virtual experience of solitary confinement.
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Das Projekt des sehr innovativen Digital Teams des Guardian sperrt den Nutzer in eine typische amerikanische Gefängniszelle. Die Geschichte selbst wird anhand von Interviews mit Gefängnisinsassen erzählt. Die Männer liefern die O-Töne zu ihren Empfindungen in der Zelle, der Nutzer erlebt das in einer virtuellen Welt.

Ich habe dieses Erlebnis keine fünf Minuten ausgehalten, danach war es purer Stress. Erst recht, wenn ich mir vorgestellt habe, in dieser Zelle Jahre zu verbringen, wie die interviewten Häftlinge. Der Effekt war da, obwohl die Umgebung eindeutig als virtuell erkennbar ist. Den ganzen Schrecken bekommt das Setting mit dem genialen Soundtrack (ja, Audio ist im VR ein wichtiges Medium, wenn es um Immersion geht).

Das Projekt des Guardian ist 2016 noch nicht massentauglich. Die Einstiegshürden sind zu hoch. Man muss eine App installieren, ein zusätzliches VR Abspielgeräte wie das Google Cardboard oder Gear VR nutzen. Aber es zeigt, wo die Zukunft hingehen kann, wenn VR Brillen (oder Kontaktlinsen oder was auch immer in den nächsten Jahren auf den Markt kommen wird) tagtägliche Massenware sein werden.

360 Grad Bilder oder Videos können eine ähnliche Wirkung wie dreidimensionale VR Umgebungen haben. Die Bilder sind dann echt. Man kann sich umsehen. In der Regel sind 360 Grad Videos jedoch (noch) zweidimensional.

Im Projekt Bridging Selma der Morgan State University School of Global Journalism and Communication und der West Virginia University Reed College of Media gehen die Studenten einen doppelten Weg.

ONA16_Bridging_Selma

Die Nachwuchsjournalisten erzählen Geschichten aus der Kleinstadt Selma in Alabama. Von dort aus entwickelte sich in den 1960er Jahren die US Bürgerrechtsbewegung. Als Nutzer kann man sich interaktiv durch die Stories aus der Gegenwart klicken, gleichzeitig bietet die Seite jedoch auch eine App, mit der man den 360 Grad Rundgang durch Selma machen kann.

Noch niedrigere Einstiegshürden in 360 Grad Storytelling bieten Return To Chernobyl des US Reportage TV Magazins Frontline, das Argentinische Projekt Asunción,

und das Projekt The Wait: Inside the Lives Of Asylum Seekers in Germany der angesehenen UC Berkley Graduated School Of Journalism in Kalifornien, die die Geschichten von Flüchtlingen in Deutschland erzählen:

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In allen drei Fällen setzten die Journalisten auf bereits vorhandene Abspielmöglichkeiten von 360 Grad – Welten. Am Beispiel Tschernobyl ist das der Facebook 360 Grad Player (der jedoch nur in den Facebook-Apps funktioniert), in den anderen Beispielen wird der Youtube 360 Grad Videoplaner genutzt, den man in den meisten Fällen von Hand zwischen einer VR Brillenfunktion und dem flachen Display umschalten kann.

Besonders im Beispiel Tschernobyl zeigt sich allerdings, wie die 360 Grad Welt von der eigentlichen Story unter Umständen ablenkt.

Positiv fällt der Kunstgriff bei Asunción auf. Dort werden in den Bereichen mit unwichtigen Bildinformationen im Stile der Augmented Reality Hintergrundinformationen per Text eingeblendet.

Im Beispiel der Geschichte über Flüchtlinge ist die 360 Grad Welt nur das Mittel, um den Nutzern ein tieferes Gefühl der deutschen Wirklichkeit zu geben (und dafür, dass Winter in Deutschland eher grau und trist sind … 🙂 …).

Scrollytelling und interaktiv 2.0, die neue Generation im crossmedialen Storytelling

Seit gut zwei Jahren sind Tools wie Pageflow für crossmediales Storytelling auf dem Markt. Sie erlauben den einfachen, barrierefreien Einsatz von verschiedenen Medienmodi auf einer Onlineseite. Der Nutzer kann also die Geschichte von oben nach unten durchschollen und bekommt dabei verschiedenste Medien (Bild, Audio, Video, Diagramme und – ja – auch Text) sofort angezeigt. Dieses Nutzungserlebnis wird vor allem im deutschsprachigen Raum „Scrollytelling“ genannt.

Die Form der Darstellung entwickelt sich weiter. Teils werden die Geschichten interaktiver, teils auch einfacher.

Ein Beispiel dafür, wie man mit sehr wenigen Worten einen ganzen Wahlkampf beschreiben kann, ist das Compare The Candidate des US Thinktanks Council on Foreign Relations, nominiert im Bereich „Planned News/ Events Small“.

ONA16_Compare_Candidates

 

Ein seriöser Vergleich der politischen Pläne von Hillary Clinton und Donald Trump ist aufwendig zu recherchieren, und die direkte Vergleichbarkeit eine große Transferleistung der Autoren. Die Arbeit hier steckt also im Hintergrund, die Darstellung selbst ist simpel und für jeden Nutzer leicht aufzunehmen. Das ist unspektakulär, aber nutzerorientiert, wie guter Onlinejournalismus 2016 sein sollte.

Buying Democracy des US Journalismus Startups Newsly setzt dazu im Vergleich in der Erzählung zur Wahlkampffinanzierung eher auf eine crossmediale Umsetzung. Das Ergebnis ist ebenfalls in Sachen Interaktivität auffallend gut.

ONA16_Buying_Democracy

 

Das St. Louis Public Radio zeigt mit dem Projekt Hear Ferguson, welche Tiefe eine crossmediale Story bekommen kann, wenn man sich an der Tonspur orientiert – wenn Audio das dominierende Medium ist. Man wird tief in die Geschichte hineingezogen:

ONA16 - One Year in Ferguson

Ähnlich fesselnd wirkt auch das Projekt Inheritance , eine weitere nominierte Story des (öffentlich finanzierten) Frontline TV Magazins in den USA. Auch hier ist die Audiospur dominierend, Interaktion und Visualisierung vertiefen die Wirkung der Geschichte des Protagonisten, der 27 Jahre nach dem Bombenanschlag auf das Flugzeug über dem schottischen Lockerbie das Gepäck seines Bruders (der bei dem Anschlag ums Leben kam) zum ersten mal öffnet:

ONA16_Lockerbie

Ein Beispiel, wie eine textdominierte crossmediale Reportage funktionieren kann, ist das Feature The County – the story of america’s deadliest police des Guardian US Digitalteams. Im kalifornischen County Kernt arbeitet die Polizei, die prozentual die meisten Menschen erschießt. Die crossmediale Aufarbeitung ist für textlästige Veröffentlichungen schon richtig gut.

ONA16_Guardian_deadliest_police

Das Scrollytelling, also das von oben nach unten Nutzen der Geschichte dominiert die Liste der für den Award nominierten Projekte. Mit einer Ausnahme, und die ist dann auch gleich für „excellent and innovative visual storytelling“ nominiert: Fatal Extraction: Australian Mining in Africa des Center for Public Integrity and the International Consortium of Investigative Journalists liest sich im Querformat mit „umblättern“ – die ideale Form für crossmediales Storytelling auf einem Tablet:

ONA16_Austalian_Mining

Datenjournalismus und interaktive Darstellungsformen im crossmedialen Umfeld

Das Erzählen von Geschichten anhand von Daten ist auch in diesem Jahr ein wichtiges Thema bei den Online Journalism Awards. Über das reine Zeigen oder Animieren von Diagrammen sind die besten Projekte inzwischen weit hinaus.

Der New York Times gelang es, Datenjournalismus und Gameification (also, spielerische Motivation) miteinander zu verbinden. In ihrem nominierten Projekt You Draw It: How Family Income Predicts Children’s College Chances soll der Nutzer seinen eigenes Diagramm malen, wie er die Abhängigkeit von Haushaltseinkommen und Collagezugang für Kinder dieser Haushalte einschätzt. Am Ende wird die Schätzung mit der Realität verglichen:

ONA16_NYTimes_Bildungsschancen

Auffallend ist auch die datenjournalistische Aufarbeitung des US Vorwahlen beim Guardian in den USA. Statt einfach nur die Ergebnisse zu zeigen lockern Comicfiguren die Seite mit Zitaten der Kandidaten auf:

ONA16_Guardian_Datajournalism

Nominiert für den besten Datenjournalismus des Jahres ist das Projekt der Tampa Bay Times über die schlechteste Grundschule für „non-whites“ in Florida. Die Geschichte wird ausschließlich mit Hilfe von beeindruckend animierten Diagrammen erzählt. Zahlen können also auch emotional sein:

ONA16i_nteractive_datajournalsm

Crossmediales Storytelling entwickelt sich rasant weiter

Wie die Liste der Nominierten für den Online Journalism Award 2016 zeigt, dominieren immer noch Umsetzungsformen der 1990er (langer Text und einzelne Bilder) den digitalen Journalismus.

Aber die Zahl der auffallend guten crossmedialen Umsetzungsformen selbst von Medien mit sehr kleinem Team und Budget macht deutlich, wie sehr besonders die US Journalisten dazu lernen. Das sollte auch ein Vorbild für deutsche Journalisten oder Marketingexperten sein. Denn die Botschaft lässt sich Online eben am besten mit Immersion erzählen – und die gibt es mit Interaktion, Audio, echter gelungener Dramaturgie und demnächst auch mit Virtual Reality und 360 Grad Video.