Es geht um den Mord an Hae Min Lee. Als sie 17 Jahre alt war, wurde sie erwürgt. Das war im Januar 1999 in Baltimore. Kurze Zeit später wurde ihr Ex-Freund für das Verbrechen verurteilt. Das Gericht stützte sich dabei lediglich auf die Aussage eines einzelnen Belastungszeugen. Die Hörfunkjournalistin Sarah Koenig rollte den Fall im Herbst 2014 wieder auf. In insgesamt zwölf Teilen einer Serie ermittelt sie selbst. Koenig und ihr Team erfanden dabei so ganz nebenbei das Geschichten-Erzählen mit Hilfe von Audio neu.
(Zum Thema Serial habe ich DRadio – Wissen auch ein ausführliches Interview gegeben. Den Ausschnitt aus der Sendung „Was mit Medien“ vom 11.12.2014 kann man unten auf der Seite nachhören)
Für die t.a.z. ist Serial die wichtigste Audioveröffentlichung seit dem legendären Krieg der Welten – Hörspiel von Orson Wells. Damals, 1938, wurden nahezu die ganzen USA in Panik versetzt, weil im Radio vom Angriff Außerirdischer berichtet wurde. Hintergründe dazu gibt es im hörenswerten Kalenderblatt der Deutschen Welle zum Thema:
Tatsächlich wiederholt sich bei Serial einiges aus der Orson Wells – Zeit. Auch wenn Serial im Gegensatz zum Krieg der Welten keine Fiktion ist. Stichtag Anfang Dezember 2014 wurden die bis dahin veröffentlichten Serial – Folgen rund 20 Millionen mal runtergeladen. Noch nie gab es seit dem Krieg der Welten eine so große Aufmerksamkeit für eine nicht – musikalische Audioproduktion. Und, wie schon 1938: Das Thema verbreitet sich per Mund zu Mund – Propaganda. Der Unterschied ist lediglich, dass man 1938 vermutlich noch in Persona zum Nachbarn rübergelaufen ist, um von den Marsianern zu erzählen. Heute nutzt man soziale Netzwerke.
Doch wie ist der Erfolg zu erklären? Warum wird ausgerechnet das von vielen so belächelte Audiogenre zur Mediengattung einer der wichtigsten journalistischen Veröffentlichungen des Jahres 2014 (mich freut es ja, ich rede schon seit langem vom Potenzial des Audios…)
Das Storytelling von Serial
Sarah Koenig nutzt das spätestens seit Sir Arthur Conan Doyle’s Sherlock Holmes bekannte literarische „Whodunnit“ – Prinzip. Der Leser wird im Unklaren darüber gelassen, wer das Verbechen begangen hat. So wurde man im Laufe der Detektivgeschichte Teil der Ermittlungen.
Auch bei Serial wird der Hörer Teil der Ermittlungen. Die Ausgangslage: es gibt zwar einen Verurteilten, die Beweise gegen ihn waren aber – um es vorsichtig zu sagen – dünn. Ob er wirklich schuldig ist oder nicht lassen die Autoren von Anfang an offen. Übrigens nicht nur für den Hörer. Sarah Koenig sagt selbst, sie will sich erst ganz am Ende der zwöfteiligen Serie selbst ein Urteil darüber bilden.
Sie lässt dem Hörer den Freiraum für ein eigenes Urteil. Die Story wird nie in die eine oder andere Richtung erzählt. Sarah Koenig berichtet (in der aus deutscher Journalismus-Sicht ungewöhnlichen „Ich“ – Form) eigentlich nur von ihren Recherche-Erlebnissen und den ständigen Zweifeln, die in ihr aufkommen. Das macht sie vertrauenswürdig für den Hörer. Diesen Umstand verwendet das Serial – Team auf einer zweiten Kommunikationsebene – und das führt uns direkt zum zweiten Erfolgsfaktor, denn
Serial nutzt die Interaktivität als Basis
Bemerkenswert ist, dass die zwölf Serial – Folgen nicht von vornherein fertig produziert wurden. Das Team setzt sich dem Stress aus, einzelne Folgen von Woche zu Woche unter Umständen völlig neu zu produzieren. Denn sie bauen bewusst mit ein, wie sich ihre Hörer zu dem Fall austauschen.
Allerdings nicht oberflächlich, mit Moderationen wie „User XY schreibt …. “ – die bislang übliche Umsetzungsform von Social Media im Radiokontext. Die Einflussnahme ist eher unterschwellig, eher Teil des Bauchgefühls des Serial Teams.
Auf Reddit ist eine extrem lebendige Community entstanden, die sich meist ernsthaft, manchmal humorvoll, und nur sehr selten unqualifiziert (wie man es aus den Kommentarspalten vieler anderer Onlinemedien kennt) mit dem Fall auseinandersetzen. Das hat einen wichtigen Grund, wie ich vermute:
Serial gelingt die Gratwanderung zwischen Seriösität und Emotionalisierung
Man kennt es aus den üblichen langweiligen Reportagen des deutschen Fernsehens, aus Onlineauftritten ehemals seriöser Nachrichtenmagazine und natürlich aus der Bild Zeitung. Da werden Geschichten dramatisiert, was das Zeug hält. Schließlich will man den Nutzer bei der Stange halten. Und für den, der es immer noch nicht kapiert hat, immer schön Redundanzen (also, Wiederholungen der Fakten) einbauen. Ein paar extrem dominante Effekte schaden auch nicht…
Sarah Koenig und ihr Team verzichten auf all das. Die Journalistin selbst erzählt die Geschichte so, wie man sie einem Freund erzählen würde – unaufgeregt, mit nur seltenen starken Betonungen. Dabei baut sie immer wieder alltägliche, jeden Hörer betreffende Geschichten mit in den Text. Ein Beispiel dafür ist schon der Auftakt der Serial – Serie, in dem sie von ihrem Sohn und seinen Kumpels erzählt, die sich kaum daran erinnern können, was sie vor ein paar Tagen so getrieben haben (die dahinter stehende psychologische Eigenschaft von Menschen spielt im Verlauf von Serial noch eine große Rolle…).
Auch Cliffhanger, wie man sie aus diversen Fernsehserien kennt, fehlen bei Serial. Die Geschichte selbst ist spannend genug, emotional genug, ergreifend genug. Eine weitere Einschaltmotivation braucht man nicht.
Aus deutscher Sicht ist auch der extrem sparsame Einsatz von O-Tönen auffällig. Koenig selbst hat als Erzählerin den mit Abstand größten Wortanteil in den Serial – Folgen. Stilmittel wie der Einsatz von Sounds oder Geräuschen fehlen ebenfalls. Das stützt die Seriösität. Klingt minimalistisch und damit leicht realisierbar? Falsch, denn
Serial ist extrem aufwendig – und das merkt der Hörer
Jeder, der schon einmal als (Hörfunk-) Journalist gearbeitet hat, kann sich beim Hören von Serial vorstellen, wie viel intensive Recherchearbeit in der Produktion steckt. Es geht nicht nur darum, die Protagonisten ausfindig zu machen. Die O-Töne sprechen die deutliche Sprache, dass es zwischen dem Serial – Team und den Protagonisten ein echtes Vertrauensverhältnis gibt. Da wurde nicht mal eben schnell schnell ein Interview arrangiert – da wurde sehr viel Zeit in den Aufbau eines persönlichen Zugangs gesteckt. Und das merkt auch der Hörer.
Ganz im Sinne eines transmedialen Ansatzes ist für Serial auch ein eigener Soundtrack komponiert worden. Musik, die sich nie in den Vordergrund spielt und nicht dramatisiert, aber trotzdem Stimmungen zur Geschichte transportiert.
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Dieser Aufwand kostet viel Geld. Richtig. Diese Wertschätzung spüren aber auch die Hörer. Das macht das Projekt um so erfolgreicher. Und um vielen deutschen Medienmanagern das noch besonders unter die Nase zu reiben (Online kann man kein Geld verdienen, hochwertige Audioproduktionen rechnen sich nicht usw…), genieße ich besonders die Erkenntnis:
Serial ist ein überwältigender finanzieller Erfolg
Von Beginn an hatte das Projekt einen Werbepartner – und zwar einen, der in absolut keiner Weise mit der Geschichte zu tun hat. Das US – Startup Mailchimp hat sich schon vor Start der Serie den Platz des Sponsors gesichert. Der Mailchimp CMO beweist damit ein sehr glückliches Händchen. Laut Financial Times zahlt Mailchimp zwischen 25 $ und 40 $ pro tausend Abrufe. Das macht bei 20 Millionen Downloads zwischen 500.000 und 800.000 $ Einnahmen nur aus dem Hauptsponsoring (wenn man keine Deckelung des Betrags vereinbart hat, was ich allerdings vermute).
Wegen der hohen Abrufzahlen standen gleich noch einige weitere finanzstarke Werbepartner auf der Matte. Und um dem Erfolg noch die Krone aufzusetzen hat Serial eine zweite Staffel mit einem neuen Thema nach einem simplen Aufruf in einer Folge durch Spenden der Hörer vorfinanziert. Und Mailchimp will auf jeden Fall auch wieder mitmachen.
Serial nutzt den richtigen Distributionsweg
Die Serie läuft auch im klassischen linearen Radio. BBC Four hat sich für Großbritannien die Rechte gekauft – wegen des großen Onlineerfolgs. Allerdings funktioniert das Serials Prinzip in Wahrheit nur auf Abruf. Nur, wenn man On Demand (oder Podcast) als Distributionskanal nutzt, kann ein Hörer auch später noch in die Serie einsteigen. Und das ist extrem wichtig. Die Viralität, die die Geschichte erzeugt, wird nur so nutzbar.
Wenn zum Beispiel angesehene Websites wie Business Insider anfangen, die Spekulationen der Hörer über den wahren Hergang des Verbrechens in eigenen Artikeln zusammenzufassen, wie sollte jemand, der so von Serial erfährt, in die Geschichte mit einsteigen, wenn nicht alle bisherigen Folgen sehr leicht auf Abruf zur Verfügung stünden?
Außerdem gibt es im Onlinebreich noch einen weiteren Vorteil: die einzelnen Episoden sind so lang, wie sie sinnvoll lang sein sollten. Da wird nichts künstlich gestreckt, um die üblichen 50 Minuten Längen eines Radiofeatures voll zu machen. Und da wird auch nichts Förderliches weggelassen, nur um nicht zu lang zu werden. Dazu gehört natürlich auch, die von Zahlenakrobaten so gern zusammengerechneten angeblichen Ideallängen von audiovisuellen Medien im Onlinebereich (ca. 30 Sekunden) zu ignorieren.
Stattdessen glaubte das Serial Team an die Wirkung der Story. Auch wegen ihrer eigenen Erfahrung aus fast zwanzig Jahren Produktion der Serie „This American Life„.
Zum Glück..
In der Sendung „Was mit Medien“ habe ich DRadio Wissen auch ein Interview zum Thema gegeben. Serial-Podcast, und was man als Radiomacher daraus lernen kann:
Weitere Lesequellen zum Thema: – Analyse von Serial bei Radio Story School – mit einem umfangreichen Blick auch auf die wichtige crossmediale Umsetzung von Serial (danke an @radiomachen für den Tipp)