Die drei besten Crossmedia Reportagen 2014

Das Jahr 2014 war das Jahr der crossmedialen Dokumentationen oder Reportagen. Zumindest gefühlt haben deutsche Redaktionen noch nie so viel in dieser Mediengattung veröffentlicht. Leider ist auch gleichzeitig noch nie so viel falsch gemacht worden. Manche Kommentatoren sprechen schon vom Ende des crossmedialen Ansatzes. Kein Wunder, denn Crossmedia wird immer noch verwechselt mit „Wir hübschen unseren langen Text mal mit ein paar Fotos und Videos auf“, oder „wir können doch das Rest Videomaterial irgenwie verwerten“.

Crossmediale journalistische Stories sind eine eigene Gattung, die eine eigene Planung, Produktion, und vor allem eine eigene Form des Geschichtenerzählens erfordern. Genau das haben meine Top 3 (einhalb) gemeinsam. Sie sind die leuchtenden Beispiele des Jahres 2014. Danach kommt lange nichts mehr.

(Disclaimer: Ich erhebe natürlich nicht den Anspruch, alle crossmedialen Veröffentlichungen deutscher Produzenten oder Redaktionen in diesem Jahr gesehen zu haben, aber eine ganze Menge waren es dann doch schon)

Platz 3: #deutschland25 (google)

deutschland25

Man könnte die Geschichte des Mauerfalls eigentlich ganz unterschiedlich erzählen. Die Medien taten das 2014 zum 25jährigen Jubiläum meist auf zwei Arten. Entweder man bemühte Archvimaterial und Augenzeugen, oder man fragte Menschen, die Teilung und Einigung erlebt haben nach ihren persönlichen Erlebnissen. Damit erreicht man Menschen unter 30 wohl kaum – sie haben keine emotionale Verbindung zu den Ereignissen.

Ausgerechnet PR macht es deutlich besser. Bei #deutschland25 werden die Geschichten von inspirierenden, jungen Menschen erzählt (meist welche, die bewusst nur das einige Deutschland kennen), die die Welt mit Leidenschaft besser machen wollen. Da findet man das innovative Startup neben der für Frauenfußball kämpfenden Nationalspielerin und der Electro Crossover Hip-Hop Band (LÖPPT !!!!), die sich der Mundartpflege verschrieben hat.

Dem google Team ist es gelungen, aus der Kombination von nicht-linearer Erzählung, sehr hohem Interaktionsanteil und gut gedrehten kurzen Videos das wichtigste Kriterium für eine gute crossmediale Veröffentlichung zu erfüllen: Die Kombination ergibt beim Nutzer mehr als die Summe der einzelnen Elemente. Es bleibt das positive Gefühl, dass unsere Gesellschaft zum großen Teil auch nach dem Mauerfall erfasst hatte. Und das bei einer Generation, die die Zeit nicht bewusst miterlebt hat.

Aufbruch, die Welt wird besser, es gibt keinen Grund für Angst. Und da dieses Gefühl natürlich auch auf die Marke übertragen wird, ist #deutschland25 neben einer besonders guten journalistischen Veröffentlichung auch ein genialer PR Erfolg. Ohne, dass die Marke in den Filmen erwähnt würde.

Link: #deutschland25 

Platz 2: Meßstetten – Zufluchtsort auf Zeit (SWR – Sandra Müller, Katharina Thoms)

fluechtlinge

Diese crossmediale Geschichte hat es im letzten Moment in meine Top 3 geschafft – sie ist gerade erst vor einigen Tagen Online gegangen. Umsetzung und Geschichte haben mich sofort gefesselt. Es ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie sich zwei Journalistinnen von ihren angestammten Mediengattungen (Sandra Müller, Hörfunk und Katharina Thoms, Film und Hörfunk) lösen und aus ihrem professionellen Wissen heraus die Chancen der crossmedialen Erzählform nutzen. Zum Wohle der Erzählung und der journalistischen Botschaft.

Die Geschichte ist mit Pageflow produziert. Damit bleibt die Erzählung zwar linear, allerdings kann der Nutzer die Rezeptionsgeschwindigkeit selbst bestimmen. Das ist noch eine wesentliche Eigenschaft einer guten crossmedialen Geschichte. Durch jeweils kurze Inhaltsblöcke (wenig Text, kurze O-Töne) bleibt die Motivation zum Weiternutzen hoch. Da bremst kein unnötiges Video den Nutzungsfluss.

Die Story folgt (bislang) dem Prinzip des constructive journalism – also der für Onlinejournalismus bereits belegten Theorie, dass Menschen sehr viel lieber einer Geschichte folgen, die konstruktiv mit Problemen und Herausforderungen umgeht als einer Geschichte, die ausschließlich Probleme darstellt. Der Fokus liegt bei der riesigen Hilfsbereitschaft für die Flüchtlinge und nicht bei den einzelnen fremdenfeindlichen Auswüchsen, die es erwartungsgemäß auch in Meßstetten gibt.

Gute crossmediale Geschichten machen sich auch eine weitere Eigenschaft der Online Distribution zu nutze – sie haben keinen Redaktionsschluss. Schreitet die Wirklichkeit voran, entwickelt sich auch die crossmediale Geschichte weiter. Das soll auch bei Meßstetten – Zufluchtsort auf Zeit so sein. Der SWR hat das Projekt vorbildlich als Langzeitbeobachtung bis 2016 geplant.

Link: Meßstetten – Zufluchtsort auf Zeit

Platz 1 – Atterwasch (miz Babelsberg – Marco del Pra’, Frédéric Dubois u.a.)

atterwasch

Atterwasch ist ein Dorf in der Lausitz, das in den kommenden Jahren vom Braunkohle-Tagebau verschluckt werden soll. Crossmedial wird von einigen Einwohnern erzählt – von ihren Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten. Dabei nutzen die Autoren im wesentlichen O-Töne als Taktgeber der Geschichte. Man merkt beim Hören eindeutig, dass es zwischen den Protagonisten und dem Reporter zumindest ein gewisses Vertrauensverhältnis gab. Das überträgt sich auf den Hörer und macht die O-Töne ganz im Stil eines guten Hörfunkfeatures besonders wirkungsvoll.

Interessanterweise ist keiner der beiden Autoren besonders radio-affin. Sie haben die O-Töne instinktiv richtig in Szene gesetzt. Unterstützt werden die Statements der Protagonisten durch Schwarz.-Weiß Fotos und  Illustrationen. Daraus entsteht eine ganz eigene Ästhetik, die fesselt. Unterstützt wird der Effekt durch die Art der Steuerung, die eine noch feinere Beeinflussung der Erzählgeschwindigkeit zulässt als das bei Pageflow-Projekten der Fall ist.

Das Atterwasch – Projekt hat die Stärken sicher auch dank des Teams entwickelt, dass neben den beiden Autoren daran beteiligt war. Die Journalisten müssen in einer crossmedialen Erzählung zwar alle eingesetzten Mediengattungen kennen und deren Wirkung einschätzen können – die Umsetzung allerdings kann gern von weiteren Teammitgliedern kommen (inklusive neuer kreativer Anregungen). Diese moderne Teamarbeit ist ein weiteres wesentliches Merkmal der besten crossmedialen Veröffentlichungen.

Link: Atterwasch Doku (auf deutsch)

Sonderpreis: Meine Platte, mein Zelt, mein Container (Hinz & Kunzt – Benjamin Läufer, Jonas Füllner, Birgit Müller u.a.)

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Die Plätze drei bis eins haben noch etwas gemeinsam: sie durften (und haben) Geld gekostet. Um so erstaunlicher ist es, wenn eine nahezu ehrenamtlich produzierte crossmediale Geschichte fast das gleiche Niveau erreicht (und viele professionell angelegte Print-Crossmedia-Versuche hinter sich lässt). Die Reportage über die Situation von Obdachlosen kurz vor dem Winter in einer der reichsten Städte Europas mit erstaunlich großem Wohnungsleerstand ist ein Projekt des Hamburger Obdachlosenmagazins Hinz & Kunzt.

Zwar trägt der geschriebene Text die Story, was eigentlich ein typisches K.O. – Kriterium für eine crossmediale Umsetzung ist. Allerdings gelingt der Hinz & Kunzt – Story durch geschicktes Layout, dass die  eingebetteten Videos, die großflächigen Fotos und die interaktiven Karten den Lesefluss nicht komplett zerstören, wie es bei den meisten anderen textlästigen Crossmedia-Veröffentlichungen der Fall ist. Ein wunderbares Beispiel, wie man mit vergleichsweise einfachen Mitteln ein wirklich gutes crossmediales journalistisches Projekt auf die Beine stellen kann.

Link: Meine Platte, mein Zelt, mein Container