Unvereinbare Gegensätze? Die Konferenz zum Reeperbahn Festival 2014

Der Hamburger Stadtteil St. Pauli ist voller Kontraste. Es gibt Luxusneubauten für Menschen mit mehr als 200.000 € Jahreseinkommen genauso wie sozial geförderten Wohnungsbau und kleine monatliche Budgets. Mittendrin liegt die Reeperbahn, mit Luxushotel und Stundenhotel. Genau so kann man auch das Reeperbahn Festival und die Konferenz dazu verstehen. 2014 trafen so viele Gegensätze aufeinander wie noch nie. Das Schwarz und Weiß, das Analog und Digital miteinander zu verbinden ist die große Chance der Reeperbahn Festival Konferenz. Aber das ist noch ein langer Weg. Eine Bilanz aus Startup-Sicht:

Das Reeperbahn Festival in Hamburg hat so etwas wie ein Startup-Gen. Es wird geprüft, getestet, weiterentwickelt. Die Zahl der Besucher ist inzwischen kaum noch zu steigern, dafür wächst die Qualität des Produktes von Jahr zu Jahr. Die Reeperbahn Festival Konferenz ist ein Beispiel. 2009 hat das Organisatorenteam die Konferenz der Musikmanager gestartet, inzwischen hat sich das Programm zu einem umfangreichen Mix aus Musik, Media, Startup – Themen weiterentwickelt.

Das Logo des Reeperbahn Festivals in Hamburg 2014

Ganz so wie das große Vorbild in Austin. Das South by Southwest hat eine ähnliche Evolution hinter sich, vom Clubfestival hin zur weltweit wichtigsten Veranstaltung für Music, Film, Interactive und Digital. Allein wegen der Größe der Location wird das Reeperbahnfestival niemals die Größe seines texanischen Vorbildes erreichen können. Muß es aber auch nicht.

Das Potenzial der europäischen Variante liegt in der Vereinbarung der eigentlich unvereinbaren Gegensätze. Und das ist etwas ganz anderes, als das gerade in den USA so übliche „gegenseitg auf die Schultern klopfen, wie toll man doch ist“. Das Hamburger Festival sollte weiterhin diese Gegensätze kultivieren und den Diskurs herum fördern.

Der Kampf der Alten und der Neuen Welt

Der Gegensatz mit der größten öffentlichen Aufmerksamkeit 2014 war das Statement von Herbert Grönemeyer am Eröffnungstag. Er beklagte den seiner Meinung nach großen Wertverlust von Musik – besonders, wenn man Alben betrachtet. Gleichzeitig sei aus seiner Sicht Musikstreaming viel zu billig. Die Musikfans sollten mindestens viermal so viel ausgeben müssen.

Diese Ansichten stammen irgendwie aus den 90er Jahren. Aus der Zeit, als die Welt eine andere war. Als der Name „Grönemeyer“ reichte, um hunterttausende CDs verkaufen zu können. Martin Weigert nennt das in einem sehr treffenden Artikel auf Netzwertig „verkennen der Aufmerksamkeitsökonomie“.

Ein anderes Beispiel: Der deutsche Vorkämpfer in Sachen Newsgames (journalistische Geschichten werden mit Hilfe von kleinen Spielen erzählt) Marcus Bösch redet – leider fast ohne Publikum – über seine Visionen der Zukunft des Journalismus. Visionen, die ich persönlich weitgehend teile. Auf der anderen Seite gibt es ein Panel über Innovationen im Journalismus. Dort sieht man dann leider auch nur die 22te und 23te Variante, geschriebenen Text irgendwie multimedial aufzuhübschen. Genau das Konzept, das schon in den 90ern gescheitert war.

Meinen Höhepunkt unter den Gegensätze erlebte ich in den Panels zur Unternehmensorganisation und Führung. Auf der einen Seite redet UX-Papst Jeff Gothelf über die „Culture Of Innovation“ in Unternehmen. Seiner Meinung nach werden die wenigsten Firmen ohne eine innovationsfördernde Unternehmenskultur noch Antworten auf sich immer schneller verändernde Märkte finden können. Einen Tag später sprachen Marketingexperten auf einem Panel dann tatsächlich noch darüber,  ob man überhaupt eine Veränderung in Unternehmen braucht und wie man die Position der Marketingabteilung in Unternehmen stärken kann – die direkte Antithese zu Jeff Gothelfs Theorien.

Von den Gegensätzen lernen heisst besser werden

Beide Seiten zu hören, innovative Ansätze zu kennen und gleichzeitig zu verstehen, warum alte Unternehmen Innovationen ohne Radikalkur nicht umsetzen können ist ein kaum zu unterschätzender Wert für das eigene Startup. Auf Startup-Veranstaltungen oder auf klassischen Konferenzen sind solche Kontraste nicht zu finden.

Gerade die Musikbranche ist beispielhaft für den Wandel in der Medienwelt

Das Reeperbahn Festival ist im Kern ein Musikfestival. Als Medienmacher hat man dort Kontakt zu einer Branche, die die schwersten wirtschaftlichen Schicksalsschläge durch die Digitalisierung schon hinter sich hat. Die, die der Medienbranche noch bevor stehen. Man hätte so viel aus den Fehlern der Musikbranche lernen können. Statt dessen machen Medienmanager die gleichen falschen Schritte (wie Leistungsschutzrecht, 3 Stufen Test und das Ansinnen derer, die beides durchgesetzt haben, Ausgliederung von wesentlichen Teilen der Wertschöpfungskette etc.).

Zurück zu den Gegensätzen. Die Bands, die heute zu den Erfolgreichsten (im Sinne von Respektiertesten mit der loyalsten Fanbase) zählen, sind die, denen es gelingt, erfolgreich Brücken zwischen den Gegensätzen zu schlagen. Das Streichquartett spielt Hardrock, die Rockformation zaubert aus E-Gitarre, Bass, Gesang  und Schlagzeug sphärische Klänge, die man eigentlich nur von Synthesizer-Bands kannte, und die Elektronikformation wiederum gibt sich auf der Bühne wie Iron Maiden (lange Haare und moshen … 🙂 …):

Das Video stammt vom Aufritt der isländischen Band Berndsen beim Reeperbahn Festival 2014. Sie steht für das Bauen der Brücken, für das Überwinden der Gegensätze – wie auch die anderen Beispiele, die ich alle beim Reeperbahnfestival gesehen habe.

Musik und Kunst hätten die Chance, auch die Geschäftswelt positiv zu verändern. Nicht ohne Grund beschäftigt sich der oben schon erwähnte Jeff Gothelf mit den psychologischen Mechanismen, die in einer Freejazz Band beim Improvisieren wichtig sind. Wie kommt die Band in diesen Gleichklang, in diesen Flow. Wenn man das auf Teams in Unternehmen übertragen könnte, hätte man den nächsten Boost in Mitarbeiterzufriedenheit und Produktivität. Letztlich muss man zuhören, und Gegensätze überwinden.

Was die Reeperbahn Festival Konferenz noch besser machen könnte

Die Besucher sind zumindest 2014 überwiegend noch in ihrer Komfortzone geblieben. Das lag sicher an der Art, wie das Programm kommuniziert wurde.  Sortiert wurde nach denjenigen, die für die Panels verantwortlich waren, und nicht nach Themen und möglichen Überschneidungen. Die Marketingleiter, die sich ihr Panel angesehen haben, hätten auch zu Jeff Gothelf gehen sollen – sie haben nur leider nicht von den Schnittmengen erfahren. Gelingt es den Machern der nächsten Reeperbahnfestival-Konferenz, die Besucher durch die Kontraste zu führen, wird die Veranstaltung zu den Vorreitern innovativer Formate.

So, wie der Stadtteil St. Pauli früher selbst einmal war. Der, der seine Kreativität und Innovationen aus den Gegensätzen gewann.